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La Serenissima

Lazy Notice

Auf nach Venedig! Aber wie kommt man am besten hin, in die Sehnsuchtsstadt über die Alpen? Mit Esel, Pferd oder Elefant? Bestimmt ermüdend für Mensch und Tier, und ganz schön von gestern! Mit Auto, Motorrad, Kerosin schluckendem Flieger, mit Ryan Air von Nürnberg nach Venedig für 40 €!? Die Zeiten sind vorbei. Ist einfach nicht mehr zukunftsfähig. Bleibt nur zu Fuß, mit dem Fahrrad oder vielleicht sogar per Gleitschirm!? OK, muss man drauf haben, gut in Form sein, Extremsportler sein oder so. Wer heute etwas auf sich hält, reist im Camping-Mobil, ein Caravan so groß wie ein Haus, je größer und luxuriöser desto besser! Auf der harten Pritsche der Deutschen Bahn, im klimaanlagenlosen Khaki, unbequem auf Vorkriegsrot liefen wir früher in Venedig ein. Schon vor dem Brenner übermannte uns Hunger und Durst, uns, völlig abgerissen, nur ein paar Lire in der Tasche, reichte es aber nur zum ersten Cappuccino. Heute dagegen katapultiert der Nightjet die Passagiere stressfrei in die sagenhafte Lagunenstadt. Die ÖBB punktet mit bequemen Sitzen, Restaurantwaggon oder kuscheligen Kabinen, Auto und Motorrad auf extra Waggon inklusive. Ohne Stau geht es durch die Nacht, bis im Morgengrauen St. Lucia aus den Nebelschwaden erwacht, wo „die Löwen fliegen und die Tauben zu Fuß gehen“ (J. Cocteau). Mitten hinein in Massentourismus und steigenden Meeresspiegel, extreme Temperaturen und horrende Trockenheit. Längst haben die Chinesen wieder das Kommando übernommen, von Corona und Pandemie, Venice made in China.

Doch Venedig bleibt ein bisschen Venedig, gibt sich Old School, mit Kirchen und Palästen, Gassen und Inseln, Kanälen und Brücken. La Serenissima, einst die Reichste und die Größte und natürlich auch die Schönste des Abendlandes bleibt eines der prächtigsten Freilichtmuseum der Welt. Ihre aristokratische Attitude scheint aber schon längst dem Pöbel ausgeliefert: 15 Mio. Besucher pro Jahr, Pauschaltourismus, totaler Tourrealismus und die Invasion der Kreuzfahrter*innen. Da fällt angesagtes Kultur- oder ausgesuchtes Luxuspublikum kaum mehr auf. Acquatraverso, in Gondola, auto- und fahrradfrei, Cappuccino oder Prosecco immer griffbereit, chinesisches Plastik überall. Bars, Cafés, Restaurants – come Dio in Italia, ma guardate con vicino! Und aufgepasst: Im Augenblick verschandeln nicht einmal Superyachten die Kais, über dem Spaziergang durch Gassen und Gässchen stülpt sich, wenn die Kreuzfahrtriesen aufgehen, nicht auf einen Schlag die Dunkelheit.

Spontan oder aktionistisch, anarchistisch und radikal blitzt eyepollution auf. Mit typischer Italianità, überall, an Häusern und Wänden, Schildern und Geländern. An der Mostra: frei nach Cecilia Alemanis Motto „Milk of Dreams“ bis Paul Celans „Milch der Frühe“, die das Russenland blutrot in Osteuropa verschüttet. Jeder möchte, und das jedenfalls, auf der richtigen Seite stehen: Gelb leuchtet der Weizen, hellblau spannt sich der Himmel darüber. „We are defending our freedom“, mahnt Präsident Selenskyi. Und hier wie überall sind wir und ist: die Ukraine. Voilâ: die Kunst-Biennale, in einem besonderen, geraden Jahr. Venezia respira arte, Ausstellung um Ausstellung, Beiprogramm as usual, die ewige Kunst-Installation in Gassen, an Plätzen, in Palästen. 2022 sind Gegensätze vereint, schöne Körper ringen mit zerstörten Seelen, Tradition mit Surrealismus, digitale Science-Fiction mit heiterem Kinderspiel, ökologischer Schick mit esoterischer Heilung. Befinden wir uns nicht im Krieg oder muss nur die Ukraine um das bloße Überleben kämpfen?

„Wir können nicht an jeder Ecke stehen bleiben und auf Dich warten! Du fotografierst und fotografierst und vertust so unsere Zeit.“ Tempus fugit! Wir erliegen ihrem Lauf. Ich bleibe einfach stehen, fokussiere den Blick der Kamera, nehme Foto um Foto auf. Der Fokus verengt die Welt, mein ständiger Begleiter schaut mir über die Schulter. Auch in Venedig hält eyepollution die Zeit an, eilt von Ort zu Ort, völlig aufgelöst. Ohne Rettung, orientierungslos verliere ich den Anschluss. Doch meine Gefährten warten lächelnd hinter der nächsten Ecke: „Das war nicht so gemeint, wir haben nur Spaß gemacht.“ Sie haben mich nicht abgehängt, lassen mich mitkommen und retten mich wieder und wieder vor eyepollution. Denn in Venedig heißt es immer noch: Ernst ist die Kunst und heiter das Leben.

Venezia 06.2022