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Tattoos des öffentlichen Raums

Von Kleberhelden bis urban Shit

„Das Kleben im öffentlichen Raum – Die Erinnerungsguerilla – Bist Du bereit?“ oder „Urbanshit – Streetart | Graffiti | Urbanism“, so geben sich die Insider des Augenmülls in den Städten über’s Internet zu erkennen. Plattformen für eine Szene, die heißen Stoff produziert. Sticker sind dort, wo gekämpft wird, sie sind da, wo es illegal werden kann, plötzlich weg und ganz woanders wieder an Ort und Stelle. Kurz und knapp, witzig und geistreich, präzise und eingängig. Sie kleben dort, wo sie jeder sehen kann, weil sonst nichts da steht: an der Ampel, wenn alles wartet, bei Rot, und schaut, an Hauseingängen, Briefkästen, Parkuhren, Münzfernsprechern, Stromkästen und Wartehäuschen, auf Brücken und Geländern. Und da ist er also wieder, der leichtfertige, launische Blick des Flaneurs, der im undurchdringlichen Dickicht der Städte seinen Lauf nimmt: „Künstler, auch wenn sie nicht schreiben“, schätzt Cees Nooteboom diese visuelle Geschmeidigkeit, „sie sind die Registrierer des Verschwindens, sie sehen das Unheil zuerst, ihnen entgeht keine Kleinigkeit.“

Vom Mauerpark am Prenzlauer Berg bis zur East Side Gallery am Spreeufer stellen sich neue Talente ein, Insider finden vom vergangenen Tacheles in Berlins Mitte, wo Banksy, The London Police und andere Legenden Geschichte sprayten, bis hinunter nach Kreuzberg immer wieder periphere Orte der Kunst und der Kreativität. Das kultige Berlin liefert pausenlos neue grelle und farbige Attraktionen auf riesengroßen Wandgemälden. Os Gêmos, Nomad, SOBR, Josef Foos, Push, Blu, Sope oder ÜF plärren anarchistische Botschaften von den Fassaden: BITTE LEBN, Ein Herz für Autonome Politik, Fickt Eusch alle, LOVE ART HATE COPS – längst ebenso berühmt und populär wie die Stätten und Werke der bürgerlichen Kultur.

Die Szene aber ist angestammt in Friedrichshain, in Kreuzberg zuhause, findet seine Heimat in Neukölln. Der Klebewahnsinn nimmt ab, je weiter es hinein in die schicken, aufgeräumten Stadtviertel geht. „Die Lektüre der Stadt“ (Franz Hessel) ist manchen zu anstrengend, der leichte Mantel „des Künstlers, Mann von Welt, Mann der Menge und Kind“ (Walter Benjamin) nicht jedermanns Geschmack. Gentrifizierung, der sozioökonomische Strukturwandel angesagter Viertel, legt sich wie ein dunkler Schatten über die Straßen, nimmt Gauklern die Kraft, das eigene Umfeld zu unterhalten, raubt Künstlern den Geschmack, ein anderes Bild der Stadt zu entwerfen. Geld lähmt die Moral, Heimat, Zuhause, seine eigene Community auszubuchstabieren. Reine Kür des Wollens dagegen, alternativ, autonom bestimmt, zeigt sich im öffentlichen Raum von Kreuzberg bis Friedrichshain, von Neukölln bis Wedding. Dort hat sogar ein Museum des Untergrunds der Öffentlichkeit seine Pforten geöffnet (hatchkingdom.com), nur um tausende von Stickern auszustellen. Da bringt eyepollution frischen Wind in die abgehobene Welt der Events und Kunstmessen, die sich aus Sicht des Straßenstrands in Berlin wie Sand am Meer ausbreiten, schafft ein ureigenes Motto: Berlin klebt (Yaam Gallery). Über die Bühne geht die erste Messe für Sticker-Macher und -Macker: mit Kleberhelden, Stickerfreaks, Packs, Künstlern, Labels, volle Diskretion, keine Presse und so, an jedem Stand gratis ‘was zum Absahnen, schnieke wa?! In Begleitung von Klebstoff, dem Stickermagazin aus Leipzig, Sticker gegen rechts von INnUp aus Bremen („Du kannst schon Nazi sein, aber dann biste halt kacke“) oder dem International Sticker Award der Gruppe Ideal aus Dresden.

Berlin 09.2019