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Der Flaneur

oder das Glück der Moderne

Paris 1850 – Baudelaire schlendert, seines Daseins, so scheint es, überdrüssig, zumindest aber plutôt ennuyé, durch die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“. Romantisch, morbide, Paris, das sich gerade wieder einmal von Grund auf neu erfindet, Maßstäbe setzt, sich ins Zentrum der europäischen Moderne stellt und bald im Hausmannschen Glanz erstrahlt, in seinem Rum sich sonnt. Im Blick des Flaneurs, des kommenden Großstadtmenschen, ist die Moderne wie ein Schleier über die Stadt geworfen, die schiere Masse entfremdet, auf sich zurückgeworfen, verloren in Melancholie, Weltschmerz, Todessehnsucht. Das Paradies direkt vor Augen, zum Greifen nah, doch das Herz schlägt fernab der Nähe, ungreifbar und fremd in der Menge, die vorüberzieht. Untergetaucht in den Hallen, vorwärts gestoßen zwischen den Passagen, taumelnden Fußes durch die Kaufhäuser, zwischen den mondänen, hell strahlenden Fassaden verloren. Der Flaneur schlendert umher, Meile um Meile, streift die Boulevards des Konsums, im Sehen versunken, vom neuen Winde hin- und hergeweht. Rebellisches Pathos verstummt, der käuflichen Praxis ausgeliefert, ohne Rettung zwischen Grand Magasin und Konsumtempel verweilt der Flaneur im gleichförmigen Ritual, dessen Gebet Kaufen heißt, Ware und Preis in Dreifaltigkeits Namen und Bekenntnis des einzig wahren Glaubens zum Markt: „Ich wünsche mir! Ich erwerbe es! Ich empfange! Und endlich, endlich erlöst!“

Berlin 2017 – Der Revolutionär brüllt seine Botschaft immer noch in die Großstadt hinaus, lässt seine Parole auch nach dem postmodernen Zeitalter an Schildern und Wänden zurück, ein Romantiker ohne Barrikaden, ein Kampf ohne Allüren, wohl kaum ohne Hoffnung. Er hält die Fahne hoch, einsam und unbemerkt, eifrig, voller Zorn, verschollen in der Menge. Vom Kapitalismus übertönt, niedergegrölt von den Phrasen und Slogans, denen alles gehört: Träume, Begehren, Haben, Haben, Haben, das Verlangen nach mehr, an den Sehnsuchtsorten, den Schauplätzen der Dinge. Auf den Straßen der Großstadt werden Illusionen plakatiert, strahlen in einer Formel des Neuen, zwischen Wunsch und fiebriger Lust, über alle Grenzen von Ideal und Besessenheit hinweg, rufen Reiz und Verführung hervor im schwärmerischen Gewimmel: „Berlin ist damit beschäftigt zu werden und hat kaum Zeit zu sein.“ Wie Odysseus treibt es die Menschen durch die Fluten, im Fluss der Geschichten, die kommen und gehen und wiederkommen, im gleichen Moment aber schon wieder vergessen sind. Der Strom der Gedanken spült ständig neues Treibgut gegen die Ufer des Bewusstseins. „Je kurzlebiger eine Zeit, desto mehr ist sie an der Mode ausgerichtet.“