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Mehr Stadt braucht kein Mensch

Selbst Widerstand ist Schickimicki

Summer in the City – viel zu heiß, viel zu viel los, um drinnen abzuhängen. Nichts wie raus an die frische Berliner Luft, die hippe Metropole genießen! Städtetourismus, Sightseeing, Kulturparcours – lieber nicht! Junge Leute aus der ganzen Welt schwärmen aus, ins pralle Leben auf den Straßen, stürzen sich in den Trubel der Cafés, das Gedränge der Partys, auf der Suche nach dem Rausch der Gefühle, durch den Dschungel der Metropole, aus der Wildnis im märkischen Sand tönt der letzte Schrei. Wie fade wirkt da das Kultur- oder Geschichtsprogramm, viel lieber geht man auf Streifzug in die City, auf die Jagd nach bizarren Locations, kuriosen Orten, exzentrischen Geheimnissen einer exzessiven Großstadt. Oder träge an der Spree abhängen, bei kühlen Drinks den Abend in Augenschein nehmen, im Schatten eines internationalen Publikums die Boulevards entlangspazieren. Spaß muss sein, bitte schön aber ohne die Tort(o)ur zu Museen, Sehenswürdigkeiten, entlang der Ausstellungskalender. Adrenalinschock und Drogenrausch statt diszipliniertem Bildungskanon, ruhelose Selbstinszenierung und stolzes Hauptstadtgetue, nicht kritischer Traditionsgedanke oder nüchterne Geschichtsreplik. Hell überstrahlt verruchter Glanz die durchgehende Nacht, wenn die unsichtbare kleinbürgerliche Atmosphäre von West nach Ost mit dem letzten Glockenschlag des Tages versunken, die Tanzflächen in Berlin und um Berlin herum aber die ganze Nacht hindurch vibrieren.

Cool town – die größte Kunstgalerie der Stadt zählt als lässige Alternative, dort wo Street-Art und Graffiti zu Hochform auflaufen, Jugendkultur und junger Kunst Platz verschaffen. Off-Nischen gelten als Trendsetter, ständig erneuert dieses artistische Labor die urbane Kultur, befruchtet das visuelle Image der Stadt. Kreative und Künstler aus aller Herren Länder haben sich seit dem Fall der Mauer auf der metropolen Leinwand verewigt: ein kunterbuntes trojanisches Pferd, das der städtischen Landschaft neue, aufregende Facetten, klingende Münze gerade im jüngeren touristischen Segment beschert. Sex Appeal für die Kapitale, frisches Blut im Hauptstadt-Marketing, Multiplikatoren des touristischen Profits – Stadtverwaltung und Senat sind die Hände gebunden, Investoren lassen dieses Biotop blühen, bis es Zeit wird für die Ernte. Wertsteigerung und Profitsucht pflügen diesen bunten Acker um und versiegeln die Stadt dann in glatter Langeweile.

It’s a different world – in allen europäischen Metropolen, egal ob Lissabon, Istanbul, Paris oder Amsterdam, überall springt dem Passanten der farbentolle Rock ’n‘ Roll der Straße ins Auge, ganz besonders auch in Berlin: Street-Art, Graffiti, Cut-Outs, neuer Schmuck für das Wohnzimmer der Stadt, junges, zeitgemäßes Image, magnetische Anziehungskraft, ach, da schau‘ hin, nicht nur für die Generation XYZ. Dagegen steht die „kleine“ Street-Art meist Im Ruf der „Schande“, über Aufklebern, Stickern, Kreidestrichen liegt der sprichwörtliche strafrechtliche Fluch. Mini-Sprays „verhunzen“ das Stadtbild, ruinieren „den ach so guten Leumund“, beflecken die schönen, sauberen Investitionsmeilen. Die öffentliche Ordnung bekämpft das wuchernde Chaos mit Kriegsgeschrei, als sei nicht nur der Verkehr, Rettungskräfte, das Eigentum gefährdet, sondern das Abendland samt 6. Amerikanischer Flotte vom Untergang bedroht: „Die Erinnerung geht vom Kleinen ins Kleinste, vom Kleinsten ins Winzigste und immer gewaltiger wird, was ihr in diesen Mikrokosmen entgegentritt“ (Walter Benjamin). Der Underground überbringt dennoch seine Botschaft, bestellt Grüße für die großen Zusammenhänge, überliefert die geheimen Zeichen der Stadt, baut erst die Bühne für die „große“ Street-Art, die vollendet zur Geltung kommt, in diesem Umfeld: Sticker, Aufkleber, Stencils, Piktogramme, Marker- und Kreide-Tags – immer und überall auf dem Weg durch den Dschungel Berlins.

Berlin 07.2019