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No City to love

Denn hier ist alles so schön

Berlin ist eine Reise wert, mit Koffer oder ohne, weil der schon längst an der Spree steht. Die Anziehungskraft währt nicht erst seit gestern, seit Mauerfall, Wiedervereinigung, dem Westberliner Barock, als Pop und (alternative) Politik die 70er bewegten, Subproletariat und Studenten in den Sixties „die Zone“ rockten. Aller Anfang ist schwer, Berlin begann mühsam, der Bär tapste Schritt für Schritt aus slawischem Sumpf: Spreeinsel, Cölln und Altberlin, Markgrafen und Kurfürsten, Preußenkönig, Gott mit uns, oh Kaiser! Dann aber Schlag auf Schlag: Groß-Berlin, Hauptstadt, ein Quantensprung, nach London und New-York auf einmal die drittgrößte Stadt der Welt. Die „Goldenen Zwanziger“, ein Hauch von Jazz, die Republik, nie ganz wahr. Endlich „Hauptstadt der Deutschen“, auf der „Weltbühne Berlin“ aber großes Gedränge, wachsende Klassenunterschiede und keine Antwort auf soziale Fragen. Der Rausch verflogen, die Sinfonie der Großstadt verklungen, in Krise, Armut und Überbevölkerung vom durchfallbraunen Einheitsdomino übernommen, die Welthauptstadt Germania im Größenwahn ersonnen: „1932 wagte man es schon nicht mehr so recht, wirklich lustig zu sein, schon gar nicht mehr im Fasching 1933, der in der Berliner Mords-Gaudi vom 30. Januar seinen Höhepunkt fand… am 27. Februar brannte der Reichstag, und schon erging am 28. die Verordnung zum Schutze von Volk und Staat, die den Ausnahmezustand verhängte. Der Zustand sollte gute zwölf Jahre dauern.“ Herbert Rosendorfers Deutsche Suite zwar in München gegeben, der Reigen hätte sich aber genau so gut in Berlin gedreht haben können. Es folgte die dunkelste Epoche, nicht ganz tausend Jahre lang wie hochgestapelt, nein, aus der kleinen blutrünstigen Episode der deutschen Geschichte ward Berlin rüde geweckt, dem Totentanz entronnen: zerstört, besetzt, blockiert, geteilt. Der nationale Größenwahn hatte sein Ende gefunden – in einem Alptraum mit Millionen von Toten.

Umgeben von grausamster Historie, gesprengter Identität, von dunklen Mächten dahingerafft holt Berlin nun wieder Luft, lebt Schicht auf Schicht, beladen von deutscher Vergangenheit, im Spiegel zwischen gestern und heute. Die Gegenwart aber beschert BB erneut goldene Tagträume. Bauwerke, Museen und Ausstellungen locken Gäste aus aller Welt. Mit 3,5 Mio. Einwohnern ist Berlin auf 900 km² eine Metropole, so weit- und auch so weltläufig wie keine andere deutsche Stadt: mit Parks und Alleen, Theatern, Tempeln der Kunst und Musik, Boulevards, Läden , angesagten Shoppingadressen, vibrierender Clubkultur von Punk bis Ball-House. Wieder winkt ein Platz unter den ersten dreien, tourrealistisch gesehen und auf Europa begrenzt. Hinter London (50 Mio.) und Paris (35 Mio.) gilt Preußens Glanz und Gloria noch vor Rom (20 Mio.) als Touristenattraktion – ganz ohne britischen Cool, französisches Savoir-vivre, in vino veritas oder mediterranem Klima.

Berlin wäre aber nicht Berlin, könnte es nicht auch seine kalte Schulter zeigen: zum Beispiel wenn die berühmt-berüchtigte Russen-Peitsche knallt. Wem Eisflocken am Potsdamer Platz schon einmal messerscharf ins Gesicht geschnitten, im Nordostwind des Olympiastadions die vier Buchstaben zur Hölle gefroren, am Landwehrkanal die sibirische Faust ohne Gebirgsdeckung den Kälte-k.o. verpasste, kann ein Lied von dem mehr als frostigen Überfall aus Osteuropa und weiter, aus Mittelasiens Weiten singen.Skandinavien, das Nordmeer und Russland unendliche Weiten so fern und doch so nah. Ähnlich verortet ist Sleater Kinney. Nach 10 Jahren Funkstille schaffte die exorbitante amerikanische Punk-Rock-Band 2015 ein Comeback. Mit dem Album No Cities to Love kehrten die olympischen Riot Grrrls auf die Bühne zurück. Der Titelsong scheint wie für den Berliner Schmuddel- und Gruselwinter geschrieben: There are no cities, no cities to love. It’s not the City, it’s the weather we love.

Dennoch, auch im Winter geht Berlin ziemlich ab, zieht scharenweise junge Talente an, wogt sich im Rhythmus der Beats weit über einer 120er Frequenz: global salonfähig, metropolenaffin, jung und angesagt. Lifestyle, Partys, Hinterhofflair, Start-ups, flache Hierarchien, Tummelbecken für Nerds, Hipster, adoleszente Spinner. Die begehrte Klientel weiß das Berliner Lebensgefühl auch nach Sonnenuntergang zu schätzen: von Tanzpalast zu Tanzpalast, in exklusiven Clubs oder aufregendem Zwischennutz. Berlin sonnt sich längst im Ruf einer pulsierenden Weltstadt, die Fremde nicht nur verehren, sondern auch darin verkehren, viele, um an Spree und Havel zu bleiben. Bunt, knallend, schillernd tanzt der Bär, das Leben taumelt beschwipst durch die Straßen über den Asphalt unter dem nächtlichen Himmel von Berlin. Die Street-Art feiert die Lichter der Großstadt: Ach, Berlin-Babylon!

Berlin 01./05.2019